Effektives Knowledge-Management mit einem Second Brain

05.04.2023Raffael Schneider
Tech Personal Knowledge Management Second Brain Notion Obsidian notetaking taskade Productivity

banner.png

Im letzten Jahr 2022 gab es gerade in der Tech-Welt viel zu diskutieren. Braucht es etwa eine Ablösung von Twitter als Ideenmarktplatz? Wird eine API-Anbindung an ChatGPT vielleicht etwa nur die Arbeit von Entwicklern unterstützen oder gar doch komplett ablösen? Sind Cheatsheets bei der täglichen Abwicklung von Tasks unabdingbar? Mir ist bewusst, dass dieses Thema nur einen kleinen Subbereich der Themen darstellt, die im letzten Jahr in aller Munde waren. Aber genau auf den gemeinsamen Nenner dieser Themen möchte ich hinaus; es gibt nämlich ein weiteres Thema, das 2022 aufgekommen ist und erst in den Kinderschuhen steckt, die Rede ist hier vom Second Brain.

Building a Second Brain 🤓🧠

Im Juni 2022 kam ein Sachbuch heraus, welches es vermochte in der Tech-Szene grosse Wellen zu schlagen. Mit “Building a Second Brain: A Proven Method to Organize Your Digital Life and Unlock Your Creative Potential” stiess Tiago Forte eine Diskussion dazu an, wie man mit der allgegenwärtigen Informationsflut im 21. Jahrhundert umgehen kann. Er selber war laut dem Buch in seiner Karrierelaufbahn oft mit dem Umstand konfrontiert, sich neue Dinge anzueignen und letztendlich zu merken. Nach mehreren Versuchen sich mit einer gegeben Methodik anzufreunden, entwickeltete er iterativ seine eigene Methodologie, welche die besten Aspekte bis anhin etablierten Praktiken herausdestillierte. Dabei wurde er von seinem Kollegen als Go-To-Stelle gekürt, wenn es darum ging entsprechende Informationen zu erhalten, wie zum Beispiel was im vorletzten Meeting zu einem entscheindenen Traktandenpunkt festgehalten wurde.

Man kann sich das Buch natürlich selbst zu Gemüte führen und die ganze Entstehungsgeschichte von Forte nachvollziehen. Einzelne Schlüsselkapitel aus dem Buch sind mittlerweile auch auf der Blogseite seiner eigenen Firma Forte Labs unter fortelabs.com einsehbar. Anhand davon kann man entscheiden, ob man das Buch extra noch lesen möchte oder die Informationen der Blogartikel schon genügen. Grunsätzlich möchte ich aber die Hauptpunkte von Building a Second Brain in diesem TechUp festhalten und aufzeigen, wie sich sowas praktisch umsetzen lässt.

Kurzzusammenfassung von Building a Second Brain

Die Grundprämisse ist, dass der berufliche wie auch private Erfolg direkt mit der Fähigkeit korreliert, effektiv Informationen aufnehmen und wieder verwerten zu können. Das heisst das Buch geht davon aus, dass je besser man Informationen strukturiert, verwaltet und dadurch schlussendlich wieder auffinden kann, desto höher wird man einerseits als Wissenträger geschätzt und gefragt. Zusätzlich weiss man sich dabei besser zu helfen, wenn es darum geht konkrete Probleme zu lösen.

Aus dieser Grundprämisse lässt sich das Erfolgsrezept eines Digitalarchivs ableiten. Die Idee ist, dass man sich ein eigenes digitales Informationsarchiv aufbaut, ein sogenanntes Second Brain, worin quasi alle möglichen Notizen und Informationen abgelegt werden. Eine bezeichnende Eigenschaft von einem Second Brain, und das als Abgrenzungsmerkmal zu konventionelleren Personal Knowledge Management-Lösungen (kurz PKM) ist, dass in einem Second Brain die einzelnen Informationseinheiten miteinander verbunden werden und der Verbund von Informationseinheiten visuell aufbereitet sowie mit anderen Leuten geteilt werden kann. Das hat den Vorteil, dass das Second Brain eine weitere Dimension der Verknüpfung einführt, welche dem ganzen eine Struktur gibt. Die Informationen können so über Suchbegriffe, Tokens und/oder Tags verknüpft und durchsucht werden.

CODE-Framework

Neben der Grundfunktionalität eines Second Brains, der Katalogisierung und Aufbereitung von Informationen, ist auch die Verwendung eines Frameworks, welches die vier Grundkomponenten eines Second Brains definiert, von Vorteil. Eines dieser Frameworks nennt sich CODE und steht als Akronym für Capture, Organize, Distill und Express.

  • Capture: Es muss zwingend erforderlich sein, Ideen so einfach und so unkompliziert wie möglich festzuhalten (Capture). Der Aufwand eine Notiz zu erstellen muss gegen null gehen, sodass überhaupt Informationen zusammenkommen. Genau die Idee, welche nur unter der Dusche zu kommen vermag, muss gleich im Anschluss mit niedrigstem Aufwand aufgenommen werden können.

  • Organize: Man braucht als nächstes eine System, wonach man die augenommen Informationen organisieren, verwalten und strukturieren kann. Dabei wird ein spezifisches System vorgeschlagen, welches sich mit dem Akronym PARA zusammenfassen lässt. Das PARA-System stelle ich gleich näher vor.

  • Distill: Nachdem Informationen aufgenommen und nach einem vorgegeben Muster systematisch organisiert sind, muss man einen Mechanismus haben, mit dem die Informationen angereichert und die Kernaussagen weiter herausdistilliert werden können, damit daraus ein Mehrwert entstehen kann. Damit ist eine Art Nachbereitung gemeint, bei der man gezielt die aufgenommen Informationen verbessert und miteinander verknüpft. Das ist ein zentraler Schritt, um verwertbare Informationen zu generieren.

  • Express: Zuletzt müssen die Information auch mit anderen geteilt werden können. Das heisst, dass man die Information kontextualisiert und visuell so gut wie möglich aufbereitet, sodass letztendlich aus einer Notiz eine Informations-Goldnugget entsteht, welcher beliebig geteilt und verwendet werden kann.

PARA-System

Im CODE-Framework wurde in der Organise-Komponente das PARA-System mit den Komponenten Project, Area, Resource und Archive vorgestellt. Diese vier Typen möchte ich nun kurz aufschlüsseln, um genau darzustellen, wonach laut dem Building a Second Brain-Buch die Information organisiert werden soll:

  • Project: Mit “Project” ist gemeint, dass Informationen eine Projektion in die Zukunft enthalten, also eine Art Sollzustand, welcher zu einem vordefinierten Zeitpunkt vorhanden sein sollte. Das sind also Task-artige Informationen, welche klar definiert werden können und sollten.
  • Area: Area ist ein Bereich, welcher keinen eindeutigen Ziel- oder Sollzustand, sondern weiterführende Aufgabenbereiche darstellt. Eine Area kann zum Beispiel Finanzen, Einkäufe, Blogging oder ähnliches darstellen.
  • Resource: Eine Ressource ist eine Information, welche unabhängig von Projekten oder Areas eine Informationsquelle darstellen und dazu beitragen ein gewisses Wissensfeld mit Ressourcen zu bestücken. Eine Ressource könnte sein: Machine Learning, Cloud Computing oder Beer brewing.
  • Archive: Archiv ist wie der Name schon sagt das Archiv der Project-, Area- oder Resource-Informationseinheiten, welche nicht mehr für das tagtägliche Business relevant sind. Diese sollte man trotzdem behalten, aber entsprechend in einen archivierten Zustand versetzten, sodass die Informationen gescheit unterschieden werden können.

Was ist jetzt genau ein Second Brain?

Man könnte meinen, dass ein Second Brain einfach eine Art Confluence oder Wiki ist, in dem man Businessrelevante Informationen auf Seiten abspeichert. Dieser Eindruck entsteht fairerweise natürlich dadurch, dass die Idee des Second Brain eine Art Knowledge Management ist, genau wie das ein Wiki oder Confluence etwa auch tun. Aber die Idee von Second Brain geht gut zwei Schritte weiter. Genau das möchte ich anhand einer Analogie zum Gehirn verdeutlichen.

Kristalline vs. fluide Intelligenz

Es gibt in der Intelligenzforschung ein psychometrisches Konzipt von zwei sich ergänzenden Intelligenzformen: Die sogenannte kristalline Intelligenz, und die fluide Intelligenz. Die kristalline Intelligenz bezieht sich auf das Wissen, das eine Person im Laufe ihres Lebens erworben hat und das auf Fakten, Zahlen und Wörtern basiert. Die fluide Intelligenz hingegen bezieht sich auf die Fähigkeit einer Person, komplexe Probleme zu lösen, indem sie ihre Denkfähigkeit, ihr räumliches Denken und ihre Fähigkeit zur Abstraktion einsetzt.

Im Bezug auf die kristalline und fluide Intelligenz kann das Second Brain-System dazu beitragen, das Wissen und die Informationen, die eine Person im Laufe ihres Lebens gesammelt hat, zu organisieren und zu strukturieren. Dies kann dazu beitragen, dass das Wissen leichter zugänglich und abrufbar ist und somit die kristalline Intelligenz unterstützt. Gleichzeitig kann das Second Brain-System auch dazu beitragen, die fluiden kognitiven Fähigkeiten einer Person zu verbessern, indem es ihr ermöglicht, Ideen, Konzepte und Zusammenhänge auf neue und kreative Weise zu verknüpfen und zu kombinieren.

Zettelkasten-Methodologie

Es gibt im deutschsprachigen Raum eine Notiz-Methodologie, welche unter dem Namen Zettelkasten durch den deutschen Soziologen Niklas Luhmann bekannt wurde. Der Zettelkasten besteht aus einer Sammlung von physischen oder digitalen Notizzetteln, auf denen Informationen, Ideen und Gedanken gesammelt werden. Diese Zettel werden dann kategorisiert, verschlagwortet und miteinander verknüpft, um ein Netzwerk von Wissen und Informationen zu schaffen. Auf diese Weise kann der Zettelkasten als eine Art externes Gedächtnis fungieren und es ermöglichen, Wissen und Informationen schnell und effektiv zu organisieren, abzurufen und weiterzuentwickeln.

Ein Second Brain ist mehr als nur ein Wiki

  • Zettelkasten: Backlinks, gegenseitige Referenzierung, Verlinkung.
  • Evolution von Ideen: Von fluid zu kristallin, von Notiz zu vollwertigen Wissens-Goldnugget.
  • CODE: Vier Schlüsselprinzipien: Collect (Sammeln), Organize (Organisieren), Distill (Verdichten) und Express (Ausdrücken).
  • PARA: Informationen in vier Kategorien unterteilen: Projects (Projekte), Areas (Bereiche), Ressources (Ressourcen) und Archives (Archive).
  • Tags: Die Kategorisierung und Verbindung von Informationen mit Tags erleichtert das Auffinden von Informationen und ermöglicht es neue Bezüge zwischen Informationen zu finden, die ohne Tags nicht möglich gewesen wären.

Second Brain Tools

Seit der Veröffentlichung des Buches Building a Second Brain sind digitale Projekte, welche neu konzipiert wurden, wieder in den Vordergrund geraten und durften durch die Idee des Second Brains eine Art Revival erleben. Beim Recherchieren des Second Brain-Themas im Bezug auf die bestehenenden Lösungen ist schnell aufgefallen, wie breit die Landschaft an Lösungen ist und wie nuanciert man vorgehen muss, um die Vor- und Nachteile aller Lösungen herauszudistillieren.

Ich vermag hier nicht eine ausführliche Liste aller Tools zur Umsetzung und Implementation eines Second Brains zu machen, möchte aber ein paar Koryphäen vorstellen, welche eine Art Best-Breed-Status haben, oder zumindest einen Bekanntheitsgrad geniessen, nach dem sich die Diskussion nach dem besten Second Brain-Tool ausrichtet.

Bewusst habe ich konventionelle Notiz-, oder PKM-Lösungen wie Google Notes, Apple Notes oder auch Atlassian Wikis nicht aufgenommen. Diese Tools lassen sich zwar gut für eingehendes Notieren von Informationen nutzen, stellen aber nur bedingt die Funktionalitäten zur Verfügung, die für ein Second Brain benötigt werden.

Tool #1: Emacs Org-Mode

Emacs Org-Mode ist wahrscheinlich der älteste Vertreter von Second Brain und wird schon seit den 90er Jahren verwendet.

Vorteile

  • Etablierter Modus, welcher schon seit Jahrzehnten genutzt wird
  • Kommt mit Emacs-typischen Keyboard-Chords
  • Extrem viele Built-In-Features und Org-Typen
  • Export in eine Vielzahl von Formaten (PDF, HTML, Postscript, Markdown, EPUB, usw.)
  • Git-basiertes Sync möglich

Nachteile

  • Org-Format ähnlich wie Markdown, aber doch nicht ganz
  • Nur mit Emacs nutzbar
  • Keine Web-Experience out-of-the-box
  • Sync entweder über Plugin oder manuell
  • Keine API

Tool #2: Emacs Roam-Mode

Emacs Roam mode wurde erstmals im Jahr 2020 veröffentlicht und bietet eine Notiz- und Wissensmanagement-Lösung für Emacs, die auf der Graph-Theorie basiert und es ermöglicht, Notizen zu erstellen und zu verknüpfen.

Vorteile

  • Etablierter Modus, welcher schon seit Jahrzehnten genutzt wird
  • Kommt mit Emacs-typischen Keyboard-Chords daher
  • Extrem viele Built-In-Features und Org-Typen
  • Export in eine Vielzahl von Formaten (PDF, HTML, Postscript, Markdown, EPUB, usw.)
  • Git-basiertes Sync möglich
  • Erweitert mit Second-Brain-Features in Anlehnung an ROAM (Backlinks, Topographie, usw.)

Nachteile

  • Org-Format ähnlich wie Markdown, aber doch nicht ganz
  • Nur mit Emacs nutzbar
  • Keine Web-Experience out-of-the-box
  • Sync entweder über Plugin oder manuell
  • keine API

Tool #3: Roam

Roam verwendet eine Graphdatenbank, um Informationen in einer hierarchielosen Struktur zu speichern und bietet Funktionen wie bidirektionale Links, Tags und Filter, um die Navigation und den Zugriff auf Informationen zu erleichtern.

Vorteile

  • Markdown als Format
  • Graph-Database
  • Relativ simpel gehalten
  • API-Access
  • Relativ kostengünstig

Nachteile

  • macOS / iOS-zentriert
  • Keine Web-Experience

Tool #4: Obsidian

Obsidian verwendet eine Markdown-basierte Textdatei-Struktur und bietet Funktionen wie bidirektionale Links, Tags und Filter, um die Navigation und den Zugriff auf Informationen zu erleichtern.

Vorteile

  • Native-Client, iOS-Client
  • Quasi keine Wartezeiten, da alles lokal
  • Markdown als GoTo-Format
  • Offizielle Cloud-Synchronisation
  • Git-basierte Synchronisation möglich
  • Relativ Barebone

Nachteile

  • Relativ Barebone
  • Keine Web-Experience out-of-the-box
  • Viele Plugins, aber 3rd-Party
  • Keine API

Tool #5: Notion

Notion verwendet eine Block-Struktur, die es Nutzern ermöglicht, verschiedene Arten von Inhalten wie Text, Listen, Tabellen, Kalender, Datenbanken und mehr zu erstellen und zu verknüpfen. Es bietet auch Funktionen wie Tags, Filter und Suche, um den Zugriff auf Informationen zu erleichtern und unterstützt die Zusammenarbeit, indem es Nutzern die Möglichkeit gibt, Dokumente und Projekte gemeinsam zu bearbeiten und zu teilen.

Vorteile

  • Komplette Web-Experience out-of-the-box
  • Nativer Client, iOS-Client
  • Offizielle Cloud-Synchronisation
  • Bietet gerade im Vergleich zu Obsidian viele Organisations- und Projekttechnische Features
  • API built-in

Nachteile

  • Closed-source Notizformat, nicht exportierbar
  • Editierung hängt von Availability des Web-Services ab
  • Eher teuer

Tool #6: Taskade

Taskade bietet eine Vielzahl von Funktionen, darunter Checklisten, Mindmaps, Kalender, Projektpläne und Teamkommunikation. Benutzer können unter anderem Tags, Farbcodierungen und Kommentare verwenden, um ihre Arbeit zu organisieren und zu priorisieren.

Vorteile

  • New kid on the block
  • Native Client, iOS-Client
  • Komplette Web-Experience out-of-the-box

Nachteile

  • Closed-source Notizformat, nicht exportierbar
  • Editierung hängt von Availability des Web-Services ab

Fazit

Ein Second Brain ist eine ausgezeichnete Möglichkeit, um Wissen und Erfahrungen zu organisieren und zu speichern. Es kann dabei helfen, effektiver zu lernen und zu arbeiten, indem es Informationen schnell zugänglich und einfach zu durchsuchen macht. Ein weiterer Vorteil ist, dass ein Second Brain dazu beitragen kann, Ideen und kreative Gedanken zu generieren und zu strukturieren.

Ich bin der Meinung, dass ein Second Brain ein äußerst nützliches Tool ist, das jeder nutzen sollte. Es hilft dabei, Wissen zu konsolidieren und aufzubewahren, es bietet eine Plattform für kreative Ideen und Gedanken und es ermöglicht es, schneller und effektiver zu arbeiten. Insgesamt ist ein Second Brain eine wertvolle Investition in die eigene geistige Gesundheit und Produktivität.

Wir testen gerade selbst den Nutzen eines Second Brains im professionellen Kontext von b-nova und sind gespannt, welche langfristigen Resultate es ermöglicht. Bleib dran! 🙌

Homepage | Forte Labs

Building a Second Brain: An Overview | Forte Labs

Building a Second Brain: The Illustrated Notes | Maggie Appleton

Zettelkasten

Build a Second Brain in Emacs | Systemcrafters

Second Brain | Notion

Building a Second Brain Review and Complete Guide